Kinästhetik: Darum ist die Mobilisation Pflegebedürftiger wichtig

Seniore Dame mit weißen kurzen Haaren sitzt lächelnd in einem Holzstuhl. Die Umgebung sieht gemütlich aus in herbstlichen Farben wie Orange und Gelb.
Das Sitzen gehört zu den sieben Grundpositionen der Kinästhetik. © MJ
Inhaltsverzeichnis

Trotz Pflegebedürftigkeit oder sogar Bettlägerigkeit ist die Mobilisation von Gelenken und Muskeln ein Muss. Die Mobilisation, also die Förderung sowie der Erhalt der Bewegungsfähigkeit, ist ein zentraler Bestandteil der Altenpflege. 

Pflegekräfte unterstützen Pflegebedürftige bei der Mobilisation, um ihre Selbstständigkeit so lange wie möglich zu erhalten. Mit dem Konzept der Kinästhetik gibt es einen Ansatz, der die Mobilisation von Pflegebedürftigen in den Fokus rückt und mit speziellen Techniken und Übungen für eine Verbesserung des Allgemeinzustands sorgen kann. Gleichzeitig werden dabei die Ressourcen der Pflegekräfte geschont.

Darum ist die Mobilisation von Pflegebedürftigen wichtig

Die Mobilisation von Pflegebedürftigen ist aus verschiedenen Gründen essenziell:

  • Druckstellen (Dekubitus), Muskelverkürzungen (Kontrakturen) und mehr können durch eine regelmäßige Mobilisation vermieden werden. Durch Bewegung bleibt die Durchblutung in den verschiedenen Körperregionen im Fluss, wodurch das Risiko für Versteifungen sowie Schäden der Haut verringert wird. Auch das Risiko für Thrombosen nimmt durch die Durchblutungsförderung ab. 
  • Die Gelenke bleiben beweglich und die Muskeln können durch gezielte Bewegungen gestärkt werden. Das führt für die Pflegebedürftigen dazu, dass sie in ihrem Alltag länger eigenständig bleiben können. Durch die regelmäßige Mobilisation verbessern sich außerdem Stabilität und Balance, wodurch das Sturzrisiko sinkt.
  • Durch die Bewegung wird die Lunge besser belüftet, die Atmung verbessert und das Risiko für Lungenentzündungen nimmt ab. 
  • Das Wohlbefinden profitiert, indem einerseits körperliche Beschwerden verringert werden und andererseits das eigene Selbstwertgefühl steigt. Pflegebedürftige fühlen sich weniger „krank“ und verspüren wieder mehr Lebensfreude. 
  • Die soziale Interaktion wird gefördert, schließlich wird die Mobilisation meist mit der Hilfe von Pflegekräften oder Angehörigen durchgeführt. Dadurch kommt es zu menschlicher Nähe, Austausch und einer positiven emotionalen Verbindung. 

Durch Mobilisation kann die Abhängigkeit von Pflegeleistungen verringert werden. Gesundheit und Lebensqualität werden verbessert und das Wohlbefinden der Person steigert sich. 

Diese Maßnahmen gehören zur Mobilisation

Zu den Maßnahmen der Mobilisation in der Pflege zählen unter anderem:

  • Das Aufsetzen der Pflegebedürftigen im Bett
  • Das Setzen der Pflegebedürftigen in einen Rollstuhl oder Stuhl
  • Der Transfer von Pflegebedürftigen von einem Rollstuhl oder Stuhl ins Bett
  • Unterstützung bei der eigenständigen Körperpflege
  • Geh-Übungen
  • Aktive Einbindung des Pflegebedürftigen bei der Pflege

Hilfsmittel, die bei der Mobilisation in der Pflege zum Einsatz kommen können, sind zum Beispiel Gehhilfen, ein verstellbares Pflegebett, Anti-Rutsch-Matten oder Aufstehhilfen. Doch nicht nur Hilfsmittel sind nützlich, um die Mobilisation zu erleichtern – auch gezielte Übungen und Techniken wie die der Kinästhetik unterstützen die Mobilisation in der Pflege sinnvoll.

Was ist Kinästhetik?

„Kinesis“ ist das griechische Wort für Bewegung und „Aisthesis“ bedeutet Wahrnehmung. Im Wortsinn liegt somit auch die Erklärung des Begriffs Kinästhetik bzw. im Englischen „Kinaesthetics“: Die Bewegungsfähigkeit von Menschen soll verbessert und ihre körperliche Wahrnehmung geschult werden. 

Entwickelt wurde die Kinästhetik in den 1970er Jahren von den US-Amerikanern Frank White Hatch und Linda Sue (Lenny) Maietta. Sie prägten auch den Begriff der „Kinaesthetics“, das ursprünglich auf einen britischen Neurologen zurückging.

Ursprünglich diente das Konzept dazu, dass pflegebedürftige Menschen Bewegungen effizient und sicher ausführen. Es entwickelte sich jedoch auch in andere Bereiche hinein, wie die Sportwissenschaft, die Pädagogik und die Physiotherapie. Dabei geht es um eine verbesserte Wahrnehmung der eigenen Bewegungen mit dem Ziel, die Mechanik des Körpers besser zu verstehen. Das beugt Verletzungen vor und verbessert die Leistungsfähigkeit. 

Die Kinästhetik sieht verschiedene Übungen und Techniken vor, die den Körper mobilisieren, die Wahrnehmung verbessern und das Gleichgewicht sowie die Koordination fördern.

Die wichtigsten Vorteile der Kinästhetik bei der Mobilisation

Im Vergleich zu anderen Mobilisations-Methoden bietet die Kinästhetik spezifische Vorteile:

  • Individuelle Anpassungen sind möglich, da die individuellen Fähigkeiten, Einschränkungen und Bedürfnisse der pflegebedürftigen Person bei der Kinästhetik berücksichtigt werden. 
  • Die Mobilisation erfolgt schonend und soll die Ressourcen der Pflegekräfte so gut es geht schonen, um Überlastung, Erschöpfung oder gar körperliche Schäden zu vermeiden. Dazu gehört zum Beispiel, dass Pflegekräfte das Körpergewicht der Pflegebedürftigen nicht selbstständig stemmen, sondern die Methoden der Kinästhetik nutzen, um es zu bewegen und zu verlagern.
  • Die eigene Körperwahrnehmung wird gefördert – sowohl die der Pflegebedürftigen als auch die der Pflegepersonen. Bewegungen können durch ein verbessertes Körperbewusstsein sicherer und gezielter durchgeführt werden. 
  • Kinästhetik kann bei jeder Pflegeund Alltagshandlung durchgeführt werden, sei es im Bett oder bei der Fortbewegung.

In der Kinästhetik sind die Bewegungsmuster fließend und rund, wodurch sie harmonisch sind und sowohl auf die Bedürfnisse der Pflegenden als auch der Senioren einzahlen. 

Die 6 Konzeptsysteme der Kinästhetik

Die sechs Konzeptsysteme bilden die Grundlage für das Verständnis und die Anwendung der Methode. Folgende Konzeptsysteme gibt es in der Kinästhetik:

Funktionale AnatomieUnterschieden wird zwischen Massen und Zwischenräumen. Massen sind Gliedmaßen, Brustkorb, Becken und Kopf, Zwischenräume meint Taille, Hals, Achselhöhlen, Hüftgelenke, Schultergelenke. Massen fassen und Zwischenräume spielen lassen, ist ein wichtiger Leitsatz.
Menschliche BewegungDurch die Kombination aus Beugen, Drehen und Strecken ergeben sich Bewegungsmuster, die fließend sind und Stabilität ermöglichen. 
InteraktionDie Interaktion zwischen der Bewegung des Pflegebedürftigen und der Pflegekraft steht im Zentrum dieses Konzeptsystems. Die Interaktion der Pflegekraft wird an die selbstgesteuerte Bewegung des Pflegebedürftigen angepasst. So entsteht eine gemeinsame Bewegung durch Pflegebedürftigen und Pflegekraft.
Menschliche Funktion Haltungs- und Transportbewegungen wie zum Beispiel das Aufrichten von der Bettkante, können durch das Verlagern von Gewicht erreicht werden. 7 verschiedene Grundpositionen wie Sitzen, Stehen oder Rückenlage bilden dabei die Basis. 
AnstrengungTragen oder schwer heben wird bei der Kinästhetik vermieden, wodurch Pflegepersonen schonender arbeiten. Ziehen und Drücken sorgen für Anspannung im Körper, die für Aktivitäten genutzt werden kann.
UmgebungDie Beziehung zwischen dem Pflegebedürftigen und der Pflegekraft muss zur Umgebung, in der die kinästhetische Mobilisation durchgeführt wird, passen. Das meint den Raum, die Möbel, das Bett und die Hilfsmittel.

Pflegende Angehörige, aber auch gelernte Pflegekräfte sollten die Mobilisationsübungen aus der Kinästhetik nicht ohne vorherige Schulung durchführen. In Pflegekursen werden die Grundlagen der Kinästhetik vermittelt und pflegende Personen lernen, wie sie Mobilisationstechniken durchführen. 

Kinästhetik ist zwar kein Teil des Expertenstandards „Erhaltung und Förderung der Mobilisation in der Pflege“, sie kann jedoch als Ergänzung betrachtet werden und zur Bewegungsförderung beitragen.

Die 7 Grundpositionen der Kinästhetik

Zu den sieben Grundpositionen der Kinästhetik gehören:

  • Rückenlage
  • Sitzen
  • Vierfüßlerstand
  • Einbein-Kniestand
  • Ellenbogen-Bauch-Lage
  • Auf zwei Beinen stehen
  • Auf einem Bein stehen

Aus diesen Positionen heraus können die Techniken und Übungen durchgeführt werden und sind somit für alle Alltagssituationen anwendbar. 

So funktionieren die Bewegungsabläufe der Kinästhetik bei der Mobilisation von Pflegebedürftigen

Die Bewegungsförderung von Pflegebedürftigen zielt darauf ab, dass diese erfahren, sich wieder mehr selbst bewegen zu können bzw. ihr bestehendes Bewegungsniveau zu erhalten. Dabei gibt es für bestimmte Alltagssituationen Anleitungen, wie die Bewegungsfähigkeit gefördert werden kann und die Mobilisation erfolgt.

Beispiel 1: Mobilisation aus der Rückenlage

Pflegebedürftige aus dem Bett zu befördern, ist herausfordernd. Mit der Kinästhetik klappt die Gewichtsverlagerung leichter und rückenschonend in 4 Schritten:

  1. Der Pflegebedürftige kreuzt seine Hände über der Brust.
  2. Er legt sich nah an die Bettkante und dreht sich zum Pfleger.
  3. Winkeln Sie nun die Unterschenkel des Pflegebedürftigen an und heben Sie sie aus dem Bett, sodass Sie über die Bettkante nach unten zeigen.
  4. Drücken Sie leicht auf die obere Hüfte und bewegen Sie den Oberkörper des Pflegebedürftigen nun in einer fließenden Bewegung nach oben.

Beispiel 2: Mobilisation der Hüfte

Um aus den vorgegebenen Grundpositionen des Pflegebedürftigen hinaus zu handeln, gibt es sowohl Anleitungen für Übungen im Stehen oder Gehen, im Sitzen oder im Liegen. Die Mobilisation der Hüfte kann im Liegen erfolgen und ist somit auch für bettlägerige Senioren durchführbar:

  1. Während die pflegebedürftige Person auf dem Rücken liegt, beugt die Pflegekraft die Knie der Person leicht an, falls sie diese Bewegung nicht mehr selbst schafft.
  2. Anschließend werden kleine Kreisbewegungen mit den Knien durchgeführt. Dabei müssen Bewegungsabläufe, Radius und Tempo so angepasst werden, dass weder Überbelastung noch Schmerzen aufkommen.
  3. Die Pflegekraft kann bei der Bewegung unterstützen, die Bewegung kontrolliert durchzuführen.

Fazit: Kinästhetik kann bei der Mobilisation von Pflegebedürftigen sinnvoll zum Einsatz kommen

Die Kinästhetik ist ein ganzheitlicher Bewegungsansatz, der die schonende Bewegung unter Berücksichtigung der eigenen Körperwahrnehmung im Fokus hat. Sie wirkt dabei nicht nur positiv auf den Bewegungsapparat und die Gesundheit, sondern auch psychisch – schließlich können Pflegebedürftige durch die richtige Mobilisation ihre Eigenständigkeit beibehalten oder sogar verbessern, was die Lebensqualität steigert. 

Die Kinästhetik hat runde, fließende Bewegungen im Fokus, bei denen aus sieben Grundpositionen heraus agiert wird. Mobilisation erfolgt dabei durch Dehnen, Strecken und Beugen, aber auch durch Ziehen und Drücken. Pflegekräfte werden durch die Kinästhetik entlastet, da Mobilisation dadurch ressourcenschonend gelingt. Wichtig ist, dass Pflegekräfte vor der Anwendung von Kinästhetik eine Schulung durchlaufen, um die Übungen und Techniken richtig zu erlernen und sinnvoll nutzen zu können.

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