Kultursensible Pflege: Wie gelingt der interkulturelle Pflegealltag?

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Inhaltsverzeichnis

In Pflegeeinrichtungen und bei ambulanten Pflegediensten nimmt der Anteil an Pflegebedürftigen mit Migrationsbiographie zu. Migranten, die zwischen 1950 und 1970 in Deutschland Heimat gefunden haben, befinden sich derzeit im pflegebedürftigen Alter. Laut aktueller Prognose wird der Anteil der ausländischen Pflegebedürftigen bis zum Jahr 2030 auf bis zu 2.8 Millionen Menschen ansteigen. Um die Attraktivität von Pflegeheimen und ambulanten Pflegediensten für diese Zielgruppe zu steigern, muss die Pflege kultursensibel ausgerichtet sein. Bei einer Gleichbehandlung von Menschen mit Migrationshintergrund werden individuelle kulturelle Unterschiede übergangen.

Ähnlich wie die geschlechtsspezifische Pflege hat der Gesetzgeber das Bedürfnis nach kultursensibler Pflege anerkannt. Dieses ist in § 1 Abs. 5 Sozialgesetzbuch (SGB) XI verankert. Die Aufgabe der Pflege besteht darin, adäquate Hilfsangebote zu bieten und den Zugang zu Pflegeleistungen sicherzustellen. Pflegekräfte fungieren im Pflegealltag als Kulturlotsen.

Wir zeigen, was sich hinter dem Begriff „kultursensible Pflege“ verbirgt und wie die transkulturelle Pflegebeziehung gelingt.

Was ist kultursensible Pflege?

Kultursensible Pflege bedeutet, dass Pflegebedürftige eines anderen Kulturkreis ihre individuellen Werte, die kulturellen und religiösen Prägungen in einer Pflegeeinrichtung leben können. Die Interkulturalität findet nicht ausschließlich zwischen Pflegepersonal und Pflegebedürftigen statt, sondern findet ebenso im Dialog mit Angehörigen Anwendung.

Welche Ziele verfolgt die Interkulturalität in der Altenhilfe?

Ziel der kultursensiblen Pflege ist es, Migrantinnen und Migranten einen gleichberechtigten Zugang zur Pflege zu ermöglichen. Sie zeigt die besonderen Bedürfnisse im Hinblick auf die Migrationsbiographie auf und bildet die Basis für optimale Betreuung bei allen Pflegeleistungen.

Welche Grundsätze gelten bei der Berücksichtigung der Herkunftskultur?

  1. Kultursensible Pflege geht auf die individuellen Bedürfnisse von Menschen mit Migrationshintergrund ein, statt sie zu behandeln wie alle anderen. Kultursensible Pflege bedeutet eine individuelle oder personenorientierte Pflegebeziehung – nicht das Durchsetzen einer Mehrheitskultur.
  2. Interkulturelle Pflege sieht den zu pflegenden Migranten nicht in erster Linie als Pflegebedürftigen, sondern als Individuum in seiner eigenen Lebenswelt.
  3. Kultursensible Pflege orientiert sich in der pflegerischen Beziehung jedes Mal von Neuem an der aktuellen Situation und der Bedürfnislage des Pflegebedürftigen.
  4. Pflege- und Betreuungskräfte bringen sich als Persönlichkeit in die tägliche Interaktion ein.
  5. Pflege- und Betreuungskräfte reflektieren und respektieren die Grenzen des Gegenübers und nehmen sie akzeptierend wahr.

Kulturelle und migrationsbedingte Dimensionen in der Pflegebeziehung sind bewusst, konsequent und kontinuierlich zu beachten. Damit schließt kultursensible Pflege an Konzepte der Ihnen bekannten biografie- und familienorientierten Pflege an, begleitet und unterstützt sie.

Warum schöpfen Menschen mit Migrationsbiographie die Möglichkeiten der Pflege nicht aus?

Ältere Menschen anderer Herkunftskultur nutzen hierzulande die Möglichkeiten der stationären und ambulanten Altenhilfe nicht vollumfänglich. Barrieren sind unter anderem

  • ein fehlendes Informationsangebot in der Sprache der Pflegebedürftigen Migrantinnen und Migranten,
  • geringe oder nicht vorhandene Deutschkenntnisse im Alltagssprachgebrauch / vorhandene Deutschkenntnisse werden von Demenzerkrankten vergessen.
  • schlechte Erfahrungen mit Behörden oder dem Pflegesystem,
  • zu wenig Hilfsangebote für Menschen mit Migrationshintergrund,
  • Sorge vor einer Mehrheitskultur, die gegebenenfalls die Gepflogenheiten der eigenen Kultur nicht anerkennt,
  • Schwierigkeiten, sich im deutschen Gesundheits- und Pflegesystem zurecht zu finden.

Was bedeutet kultursensibles Arbeiten in der Pflegeeinrichtung?

Kultursensibles Arbeiten bedeutet im Pflegealltag, personenzentriert zu arbeiten. Es werden Aspekte berücksichtigt, die nicht in unmittelbarer Beziehung zu den vorliegenden psychischen und physischen Einschränkungen stehen. Diese könnten Einfluss auf das Unterstützungs- und Beratungsverhältnis haben.

Welche Anwendung findet Multikulturalität bei ambulanten Pflegediensten?

Das Thema „Kultursensibilität“ macht vor ambulanten Pflegediensten nicht halt. Soziale Gepflogenheiten und Wertvorstellungen, kulturelle und sprachliche Schwerpunkte sind von Bedeutung, um der Multikulturalität Rechnung zu Tragen.

Vor allem wenn eine MDK-Begutachtung zur Einschätzung des Pflegegrads (ehem. Pflegestufe) im Raum steht, ist eine gute Kommunikation zwischen Pflegekraft und Pflegebedürftigem unabdingbar. Die Pflegekraft hat die Aufgabe, zwischen individuellen kulturellen Gegebenheiten mit der pflegerischen Situation in Zusammenhang zu setzen und dem MDK-Prüfer zu erläutern. Verfügt der Pflegebedürftige nicht über gute Deutschkenntnisse, können Übersetzungen seitens der Pflegekraft notwendig werden.

Wurde ein Pflegegrad (Pflegestufe) festgestellt, kommen regelmäßige Überprüfungen hinzu, bei denen der Pflegebedürftige eine fundierte Unterstützung an seiner Seite benötigt.

Wer ist für die Berücksichtigung der Herkunftskultur in der Pflege verantwortlich?

Die interkulturelle Öffnung des Pflegeangebots der Altenhilfe betrifft die ganze Organisation. Ausgehend vom Träger, über das Management des Altenzentrums, bis hin zur Akzeptanz auf der Praxisebene. Sie erfordert einen langfristigen Entwicklungsprozess und muss dauerhafter Bestandteil der Entwicklung der Organisation und der Qualitätssicherung sein. Das gilt für die stationäre Pflege genauso wie für ambulante Pflegedienste.

Die Umsetzung ist transparent zu gestalten und erfordert entsprechende Ressourcen. Das Pflegeteam benötigt Zeit, um sich kulturelle Kompetenzen anzueignen und Möglichkeiten, die bisherigen Erfahrungen zu reflektieren. Dies gelingt im Rahmen von Fort- und Weiterbildungen sowie in Form der Personal- und Teamentwicklung.

Dazu gehören unter anderem

  1. die Zusammenstellung eines interkulturellen Teams,

  2. das Erarbeiten einer gleichberechtigten Kommunikation, vor allem bei unterschiedlich ausgeprägten Deutschkenntnissen,

  3. Entwicklung von Regeln zur Verständigung und zum Umgang mit Konflikten, um bei verschiedenen Sicht- und Herangehensweisen einen konstruktiven Umgang zu ermöglichen,

  4. das Erlangen von interkultureller Kompetenz. Das Pflegeteam benötigt entsprechende Begleitung und Anstöße, um Kultursensibilität zu entwickeln. Diese wird erlangt durch

  5.  
    • interkulturelle Inhalte in der Ausbildung
    • regelmäßige Fort- und Weiterbildungen durch Kulturlotsen
    • interkulturelle Team- und Pflegebeziehungen im Pflegealltag.

Die Pflegedienstleitung steuert den kultursensiblen Pflegeprozess. Der Dialog mit Pflegebedürftigen und deren Angehörigen ist Hauptaufgabe der Pflegekräfte. 

Welche Kompetenzen setzt die transkulturelle Pflege voraus?

Die transkulturelle Pflege setzt kulturelles Hintergrundwissen, Wertschätzung, Respekt und Empathie voraus. Pflegeangebote müssen auf die kulturellen und religiösen Bedürfnisse des Pflegebedürftigen abgestimmt sein und seine Selbstbestimmung fördern.

Der Anspruch einer kultursensiblen Pflege besteht darin, dass Sie Ihnen fremde Lebensweisen, Traditionen sowie Wert- und Glaubensvorstellungen von Heimbewohnern akzeptieren und respektieren. Das erfordert besondere Professionalität und Reflexionsfähigkeit im Umgang mit eigenen Gefühlen, den Kultur- und Identitätsvorstellungen sowie dem Berufsverständnis. Kenntnisse über unterschiedliche Kulturkreise und Migrationsverläufe stellen eine wertvolle Basis dar.

Wichtig

Bei der individuellen Pflege von Migrantinnen und Migranten ist es nötig, Nuancen von Vielfalt und Individualität wahrzunehmen. Pflege- und Betreuungserwartungen älterer Migranten können nicht angemessen über kulturelle Stereotype erschlossen werden. Es ist Ihre Aufgabe, ein Gespür für die individuelle Unterschiedlichkeit von Pflegeerwartungen zu entwickeln und angemessen darauf zu reagieren. Ihre Wahrnehmung ist gefragt, um in der Altenhilfe ein individuelles, bedürfnis- und biografieorientiertes Pflegehandeln aufzubauen.

Aufgrund der Vielzahl an Kulturkreisen ist von Pflegekräften vor allem Flexibilität und Einfühlungsvermögen gefordert. Stellen Sie sich auf einen Handschlag zur Begrüßung, auf Wangenküsschen, eine Einladung zum Tee und viele andere Situationen ein. Hier ist Ihr zuvorkommendes und respektvolles Pflegehandeln gefragt.

Ein türkischer Pfleger sagte einst:

„Es macht vieles leichter, wenn man sich mit unterschiedlichen Traditionen, Ritualen und Gepflogenheiten auf der Welt auskennt. Wo man die Schuhe auszieht, wie man sich begrüßt, welche Feiertage es gibt. Doch erst mit der Erfahrung bekommt man ein Gespür: Wer ist gekränkt, wenn ich ihm die Hand gebe, wer ist gekränkt, wenn ich ihm nicht die Hand gebe.“

Welche Lerntheorien bilden eine geeignete Basis für die Kompetenzerweiterung?

Die Lerntheorie des Kognitivismus eignet sich zur interkulturellen Kompetenzerweiterung der Pflegemitarbeiter. Hier steht die individuelle Informationsverarbeitung steht im Mittelpunkt.

Der Kognitivismus ist ein Überbegriff für Prozesse und Strukturen, welche die inneren Vorgänge betreffen. Er umfasst Fähigkeiten, welche dem menschlichen Denken als Basis dienen. Dazu zählen unter anderem

  • Vorstellungskraft,
  • Wahrnehmung,
  • Konzentration,
  • Erinnern,
  • Kreativität und
  • Planen.

Kognition ist ein wesentlicher Bestandteil des Pflegealltags. Pflegekräfte nehmen Signale aus der Umwelt wahr und verarbeiten diese. Fort- und Weiterbildungen sollten darauf ausgerichtet sein, die kognitiven Prozesse der Pflegemitarbeiter zu fördern und zu unterstützen.

Darüber hinaus fallen Selbstlernprozesse in das Gebiet des Kognitivismus. Selbstlernkompetenz umfasst die Fähigkeit, selbstbestimmtes Lernen zu veranlassen und zu organisieren.

Da der Kognitivismus Gelerntes nicht als dauerhaft erachtet, sind – seitens der Pflegeeinrichtung – zusätzlich Rahmenbedingungen für Selbstlernprozesse zu schaffen. Zur Unterstützung des Selbstlernprozesses der Mitarbeiter zählen das Bereitstellen von Informationsmaterial, Mentoring oder Beratungen seitens der Einrichtung.

Wie lässt sich Kultursensibilität in Ihrer Pflegeeinrichtung umsetzen?

Ein Bewusstsein für Multikulturalität ist nicht ausreichend. Das Vorhandensein eines fundierten Konzepts stellt die wichtige Grundlage dar. Die folgenden Punkte bieten wertvolle Ansatzpunkte für die Umsetzung.

1. Schaffen Sie Verständnis

Damit das Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen im Altenzentrum gelingt, müssen alle an der Pflege Beteiligten den Willen zur Umsetzung haben. Nehmen Sie Abstand von einer Mehrheitskultur und richten Sie den Fokus auf die individuellen Facetten der Multikulturalität. Stellen Sie es sich wie eine Entdeckungsreise in verschiedenen Ländern vor. Seien Sie offen, neugierig und reflektieren Sie Erlebtes. Das ist die beste Basis für Verständnis.

2. Legen Sie Verfahrensstandards fest

Etablieren Sie in Ihrer Einrichtung Verfahrensstandards für unterschiedliche Kulturen. Es bietet sich an, für jede bekannte Kultur ein Datenblatt anzulegen. Hierauf werden die kulturellen Besonderheiten notiert. Dazu zählen zum Beispiel Lebensmittel, die nicht serviert werden dürfen, Rituale und andere interkulturelle Aspekte.

Bestandteil der Verfahrensstandards ist, dem Pflegebedürftigen und seinen Angehörigen die Regeln der Einrichtung zu kommunizieren.

Auf diese Weise wird dafür gesorgt, dass das Pflegepersonal, der Pflegebedürftige und seine Angehörigen ein Miteinander unter Berücksichtigung wichtiger interkultureller Aspekte gestalten.

3. Sammeln Sie Informationsmaterial und bereiten Sie es auf

Werden neue Mitarbeiter in der Pflegeeinrichtung oder im ambulanten Pflegedienst eingestellt ist es wichtig, sie in die Multikulturalität der Einrichtung einzuweisen. Unterlagen vorausgegangener Schulungen können als Handreiche dienen. Das Schulungsmaterial sollte laufend aktualisiert und ergänzt werden, damit neue Mitarbeiter mit der Handreiche vollumfänglich informiert werden.

Es bietet sich an eine Handreiche pro Kultur anzufertigen, um bei Bedarf schnell wichtige Aspekte nachlesen zu können.

4. Ernennen Sie einen Kulturlotsen

Damit der interkulturelle Austausch in Ihrem Altenzentrum gelingt, bietet sich die Ernennung eines Kulturlotsen an. Dieser zeichnet sich für den Dialog zwischen verschiedenen Kulturkreisen verantwortlich. Verfügt der Kulturlotse über einen Migrationshintergrund, ist von vornherein ein hohes Maß an Grundverständnis gegeben, welches über Schulungen weiter ausgebaut wird.

Ein Mitarbeiter ohne Migrationsbiographie ist, nach fundierter Weiterbildung, ebenfalls für die Position als Kulturlotse geeignet.

5. Gestalten Sie gemeinsame Feiertage und Festlichkeiten

Gemeinsame Feiertage und Festlichkeiten sind hervorragend geeignet, um einander näher zu kommen und Verständnishürden zu verringern. Richten Sie Feiertage und Festlichkeiten nach unterschiedlichen Kulturkreisen aus. Auf diese Weise schaffen Sie eine solide Basis für gegenseitiges interkulturelles Verständnis und erzeugen ein „Wir“-Gefühl. Die Pflegebedürftigen und Angehörigen spielen in diesem Zusammenhang, wie die Mitarbeiter der Pflegeeinrichtung, eine tragende Rolle.

6. Sorgen Sie für Kommunikation

Gute Kommunikation ist die Basis für gute Pflege – und damit die Grundlage für die erfolgreiche interkulturelle Pflege. Im Rahmen der Kommunikation mit Pflegebedürftigen und deren Angehörigen loten Sie aus, welche Rituale und Werte von Bedeutung sind. Menschen mit Migrationshintergrund verfolgen oftmals nicht strikt alle Regeln der Kultur, sondern legen Wert auf einzelne Aspekte des Kulturkreises.

Der Austausch im Team ist genauso wichtig, um Informationen auszutauschen und herausfordernde Situationen der Kultursensibilität zu meistern.

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Gibt es einen Unterschied zwischen den Begriffen „interkulturell“ und „multikulturell“?

m Alltagssprachgebrauch werden die Begriffe „interkulturell“ und „multikulturell“ als Synonym verwendet.

Im Pflegealltag wird bevorzugt, die Ausdrücke zu unterschieden. Interkulturalität bezeichnet die Begegnung zwischen Menschen unterschiedlicher Kulturen. Multikulturalität bezeichnet einen Zustand, zum Beispiel um zu verdeutlichen, dass in einem Altenzentrum Mitarbeiter unterschiedlicher kultureller Herkunft arbeiten. Wir verwenden im diesem Artikel die Begriffe nach dem Alltagssprachgebrauch.

Fazit: Kultursensible Pflege ist essentieller Bestandteil des Pflegesystems

Vor allem im Alter nehmen kulturelle Gepflogenheiten und religiöse Traditionen für viele Menschen eine zentrale Rolle ein. Aus diesem Grund ist es wichtig, dass sich das Pflegesystem und die Pflegeeinrichtungen auf den steigenden Bedarf an kultursensibler Pflege vorbereiten. Die interkulturelle Öffnung der Altenhilfe stellt eine hochkomplexe Steuerungs- und Entwicklungsaufgabe dar. Sie erfordert das Mitwirken aller an der Pflege Beteiligten.

Die Einstellung von Mitarbeitern mit Migrationshintergrund und die Schulung des Pflegeteams sind wichtige Schritte in Richtung eines kultursensiblen Altenzentrums. Die Umsetzung der kultursensiblen Pflege stellt – in jeder Hinsicht – eine Investition in die Zukunft dar. Sie sorgt für die Weiterentwicklung eines zukunftsfähigen Pflegesystems.