Ethische Fallbesprechung: Durchführungsprotokoll und Anleitung

Verantwortungsvoll entscheiden und handeln 
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Inhaltsverzeichnis

Sie als Pflegedienstleitung erleben im Berufsalltag mit Ihren Mitarbeitern zusammen regelmäßig Situationen, in denen richtig und falsch nicht eindeutig sind bzw. es unterschiedliche Meinungen innerhalb des Teams gibt. In der Hektik des Tagesgeschäfts sind allerdings konzentrierte Gespräche und die nachhaltige Klärung mit allen Beteiligten kaum möglich. Viele Pflegeteams berufen in solchen Situationen eine ethische Fallbesprechung ein und profitieren nach dieser strukturierten Bearbeitung der Fragestellung von den Ergebnissen. Lesen Sie hier, was eine ethische Fallbesprechung ist, wo sie Anwendung findet und wie Ihr Pflegeteam diese Methode gewinnbringend einsetzt.

Was ist eine ethische Fallbesprechung? 

Bei der ethischen Fallbesprechung handelt es sich um ein strukturiertes Gespräch zwischen verschiedenen Berufsgruppen und Akteuren aus der Altenpflege mit dem Ziel, eine möglichst begründete pflegerische Entscheidung zu treffen. 

Meist ist die ethische Fallbesprechung multidisziplinär. Das bedeutet: Es sind verschiedene Berufsgruppen beteiligt. Bei der internen Fallbesprechung sind mindestens Pflegedienstleitung (kurz: PDL), Moderation, Bezugspflegekraft und die restlichen Mitglieder eines Pflegeteams in das Gespräch eingebunden. Nicht selten sind aber auch behandelnde Ärzte, verschiedene Therapeuten, Angehörige oder gesetzliche Vertreter beteiligt. 

Thema des strukturierten Gesprächs ist ein bestimmter Pflegekunde. Anlass der Besprechung ist der Eindruck eines oder mehrerer Beteiligten, dass die Pflege dieses Patienten aktuell inadäquat ist. Um eine moralische Entscheidung im Sinne des Pflegekunden zu treffen, sollen verschiedene Meinungen zum weiteren pflegerischen oder medizinischen Vorgehen eingeholt und abgewägt werden. Diese ethische Argumentation führt im Idealfall zu einer Handlungsempfehlung an den Entscheidungsträger (meist Ärzte). Die finale Festlegung auf eine Handlungsoption liegt schließlich in der Verantwortung dieses Entscheidungsträgers.

Wissenswert

Nicht immer lässt sich ein Konsens über die „richtige Entscheidung“ finden. Wenn das Pflegeteam einen ethischen Konflikt identifiziert hat und keine Einigung über die beste weitere Behandlung im Sinne des Patienten erreichen konnte, besteht auch die Möglichkeit, ein externes Ethikkomitee zur Rate zu ziehen (externe Fallbesprechung). Solch ein Ethikkomitee gibt es in der Regel in jedem größeren Klinikum und oftmals auch in der stationären Altenpflege.

Wer ist an der ethischen Fallbesprechung beteiligt?

Abhängig davon, ob eine interne oder externe ethische Fallbesprechung stattfindet, sind verschiedene Personengruppen beteiligt. Immer vertreten ist ein behandlungsexterner Moderator. Er hat die Aufgabe, jeder vertretenen Meinung Gehör zu verschaffen und die Beteiligten in Richtung eines Konsenses zu lenken. 

Folgende Personen- und Berufsgruppen können an der internen ethischen Fallbesprechung beteiligt sein:

Achtung

Es ist wichtig, dass der Moderator behandlungsextern ist. Das bedeutet, er sollte nicht zu enge Berührungspunkte mit der diskutierten Person haben. Daher darf es sich in keinem Fall um die Bezugspflegekraft handeln. Sie wäre persönlich zu befangen.

Wann kommt die ethische Fallbesprechung in der Altenpflege zum Einsatz?

Die ethische Fallbesprechung findet in der Altenpflege Anwendung, wenn schwierige moralische Entscheidungen über die weitere Versorgung eines Pflegepatienten getroffen werden müssen.

Das ist beispielsweise der Fall, wenn …

die aktuelle Behandlung nicht mit dem (vermuteten) Patientenwillen übereinstimmt Dies liegt zum Beispiel nahe, wenn ein Patient zwar nicht mehr einwilligungsfähig und noch dazu sehr alt ist, jedoch eine weitreichende operative oder medikamentöse Behandlung (z. B. Krebstherapie) erfahren soll.
die aktuelle Behandlung nicht mit den Werten der Behandelnden vereinbar istDas kann der Fall sein, wenn eine Operation durchgeführt werden soll, eine Pflegekraft den betroffenen Pflegekunden aber als sterbend wahrnimmt und ihm daher solche Strapazen ersparen will.
die eingeleitete Therapie nicht der Indikation gerecht wird Das kann beispielsweise passieren, wenn medizinische Maßnahmen ergriffen werden (z. B. Überweisung auf die Intensivstation für lebenserhaltende Maßnahmen), obwohl der Pflegepatient im Sterben liegt.

Allgemein kommt die ethische Fallbesprechung also immer dann zum Einsatz, wenn das aktuell verfolgte Therapieziel im Widerspruch zum Willen und Wohlergehen des Patienten oder den Werten des Pflegpersonals steht. 

Was sind Ziele einer ethischen Fallbesprechung? 

Oberstes Ziel der ethischen Fallbesprechung ist es, eine moralische Entscheidung über die weitere Behandlung einer pflegebedürftigen Person abzuleiten. Die Notwendigkeit dafür ist gegeben, wenn der Pflegepatient selbst nicht mehr im Sinne seines körperlichen und seelischen Wohlergehens entscheiden kann. 

Ziele der ethischen Fallbesprechung sind daher:

Differenziertes Bild der BehandlungssituationIndem Sie die Situation der pflegebedürftigen Person aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten und bewerten, generieren Sie die erforderliche Grundlage für eine verantwortungsvolle Handlungsempfehlung. 
Einbezug der Herkunft des PatientenDer Fokus auf die Vergangenheit des Betreuten kann Aufschluss über dessen Lebenspläne geben. So lässt sich wiederum oft auf den Patientenwillen schließen.
Annäherung an den vermuteten PatientenwillenSie haben die Aufgabe, stellvertretend für den Pflegekunden zu entscheiden. Um ihm diesen Dienst zu erweisen, bedarf es eines möglichst aktuellen Bildes vom Patientenwillen. Hier sind neben vergangenen Äußerungen des Betreuten auch die momentane non-verbale Kommunikationsfähigkeit, die Compliance bei der Behandlung oder eine Patientenverfügung handlungsleitend.
Gemeinsame Empfehlung für das weitere pflegerische VorgehenZuletzt ist das Ziel der ethischen Fallbesprechung, dass sich das Pflegeteam gemeinsam auf eine verantwortungsvolle und moralische Empfehlung zur Weiterbehandlung des Pflegepatienten einigt.

Diese Ziele erreichen Sie vor allem dann, wenn Sie ein vertrauensvolles wie auch wertschätzendes Gesprächsklima sicherstellen und auf ein strukturiertes Vorgehen zur ethischen Fallbesprechung zurückgreifen.

Wie läuft eine ethische Fallbesprechung ab?

Die sogenannte Nimwegener Methode ist aktuell die bekannteste strukturierte Vorgehensweise für die ethische Fallbesprechung. Die Nimwegener Fallbesprechung ist dabei nur eine von zahlreichen Verfahren. Sie zielt darauf ab, die moralische Frage nach der bestmöglichen weiterführenden Behandlung eines Pflegekunden direkt im Pflegeteam zu beantworten.

Hierbei ist zunächst das ethische Problem zu definieren. Danach werden (medizinische, pflegerische und psychologische) Fakten geklärt, bevor es um die Bewertung der Informationen aus der Sicht eines möglichst selbstbestimmten Bewohners geht. Am Ende der Nimwegener Fallbesprechung sollte ein Konsens (Absprache) über das beste weitere Vorgehen zum Wohl des Patienten gefunden werden. 

Beispiel für ein Durchführungsprotokoll

Name des Bewohners:
Datum:
Moderation:
Protokollführer:
Teilnehmer:

1. Problembenennung

Was ist der Anlass für das Gespräch? Welches Problem soll mit welchem Ziel bearbeitet werden?
Welche Frage soll durch die Fallbesprechung beantwortet werden?

2. Medizinische Fragen

Welche Diagnosen / medizinische Vorgeschichte sind / ist bekannt?
Welche Maßnahmen sind möglich / geplant?
Wie könnte die Prognose ohne die Maßnahmen lauten?
Wie könnte sich die Prognose durch die geplanten Maßnahmen verändern?
Könnten die Maßnahmen schaden?
Wie könnten sich positive und negative Auswirkungen zueinander verhalten?

3. Pflegerische Gesichtspunkte

Wie sieht die pflegerische Situation des Bewohners aus?
Gibt es zurzeit besondere pflegerische Probleme?
Welche Aspekte der bestehenden Pflegeplanung sind in Bezug auf die Ausgangsfrage relevant?
Welche Maßnahmen sind derzeit geplant?
Mit welchem Ziel sollen sie durchgeführt werden?

4. Psychologische Gesichtspunkte

Was ist über das psychische Befinden des Bewohners bekannt?
Was ist über die religiöse oder weltanschauliche Einstellung des Pflegekunden bekannt?
Möchte der Bewohner seelsorgerisch oder spirituell begleitet werden?
Welche Erwartungen hat der Betreute an die pflegerische und medizinische Versorgung?
Welche Erwartungen hat die Familie / haben weitere Bezugspersonen?
Welchen Einfluss hat die derzeitige Situation auf die Lebensqualität des Bewohners?
Welche Maßnahmen sind in Bezug auf das Ausgangsproblem möglich und wie könnten sie sich auf das Wohlbefinden des Bewohners auswirken?

5. Selbstbestimmung des Bewohners

Ist der Bewohner einwilligungsfähig?
Falls nicht: Was ist sein mutmaßlicher Wille? Woher ist dieser bekannt?
Liegt eine Patientenverfügung / eine Vorsorgevollmacht vor? Was beinhaltet sie?
Versteht der Bewohner seine Situation? Wie bewertet er sie?
Welche Werte und Einstellungen des Bewohners sind in diesem Zusammenhang wichtig?

6. Absprachen und weiteres Vorgehen

Ist die Ausgangsfrage gleich geblieben, nachdem die Gesprächspartner sich über die Fragen ausgetauscht haben? Falls sich im Gespräch herausgestellt hat, dass es um eine andere Fragestellung geht: Wie lautet die eigentliche Frage?
Sind alle zur Entscheidung wichtigen Informationen bekannt?
Welche Maßnahmen entsprechen am ehesten dem (mutmaßlichen) Willen des Bewohners?
Zu welchem Ergebnis kommen die Beteiligten des Gespräches?
Wie soll in Zukunft mit dem Problem / der Fragestellung umgegangen werden?
In welchen Situationen sollte es eine weitere Fallbesprechung geben?

Wie führen Sie die ethische Fallbesprechung ein?

Der Aufwand der ethischen Fallbesprechung schreckt anfangs oftmals ab. Daher hängt es an Ihnen als Pflegedienstleitung, die neue Methode gut zu begründen und die Arbeit für jeden einzelnen möglichst gering zu halten.

Wenn Sie erreichen möchten, dass Ihre Mitarbeiter das Instrument gern und kontinuierlich nutzen, ist es wichtig, dass der organisatorische Aufwand für den Einzelnen gering bleibt und Ihre Mitarbeiter gleichzeitig einen Nutzen in der Sache erkennen. Hierbei unterstützt Sie die folgende schrittweise Implementierung.

1. Schritt: Informieren Sie Ihre Mitarbeiter über die geplante MethodeStellen Sie das Instrument derethischen Fallbesprechung zunächst in einer Mitarbeiterkonferenz vor. Starten Sie in den darauffolgenden Wochen 1–2 Probedurchläufe pro Team. So erkennen Ihre Mitarbeiter, dass es sich hierbei um eine praktikable Problemlösungsmethode handelt. Außerdem haben sie die Gelegenheit, Verbesserungsvorschläge zu Ablauf und Inhalt zu machen. Entsprechend erhöht sich die Akzeptanz der Methode. Führen Sie die Fallbesprechung erst nach dieser Einführungsphase offiziell ein.
2. Schritt: Lassen Sie Moderatoren ausbildenDie Rolle des Moderators ist es, für die Einhaltung des strukturierten Ablaufschemas zu sorgen, damit jeder zu Wort kommt. Achten Sie darauf, dass der Moderator nicht gleichzeitig Bezugspflegekraft des besprochenen Bewohners ist. Falls Sie die ethische Fallbesprechung fest in Ihrer Einrichtung implementieren möchten, lassen Sie 1–2 Mitarbeiter zu Moderatoren ausbilden. Diese Ausbildung gibt die notwendige Sicherheit und stellt Kompetenz bei der Durchführung sicher.
3. Schritt: Regen Sie die Fallbesprechung anPrüfen Sie bei schwierigen Fragestellungen, ob eine ethische Fallbesprechung einberufen werden soll. Entscheidend ist, dass ein so gravierendes Problem vorliegt, dass Sie und Ihre Mitarbeiter es im Alltag nicht hinreichend lösen können. Wichtig ist, dass jedes Teammitglied das Recht hat, eine ethische Fallbesprechung vorzuschlagen. Zwischen Vorschlag und Durchführung sollte höchstens eine Woche liegen. Zu Beginn ist es Ihre Aufgabe als PDL, die Durchführung anzuregen, bis Ihre Wohnbereichsteams selbst daran denken.
4. Schritt: Verteilen Sie die Organisation auf viele SchulternLegen Sie den Termin fest und verteilen Sie die Organisation auf verschiedene Mitarbeiter:



– Der Moderator ist ausschließlich für die Moderation der Besprechung zuständig.

– Die Bezugspflegekraft des Bewohners fügt die wichtigsten Informationen unter den entsprechenden Stichpunkten schon vorab ins Protokoll ein und stellt sie in der Besprechung vor.

– Der Protokollführer schreibt das Protokoll direkt während der Besprechung mit.

– Ein anderer Mitarbeiter übernimmt Terminabsprachen und Organisation (Raum, Getränke).
5. Schritt: Führen Sie die Fallbesprechung in ruhiger Atmosphäre durchWichtig ist es, eine rege Beteiligung von involvierten Pflegekräften, Angehörigen, Leitungskräften und sonstigen Mitarbeitern sicherzustellen. Zudem ist darauf zu achten, dass jeder in der Besprechung zu Wort kommt. Dies sind Aufgaben des Moderators.

Fazit: Ethische Fallbesprechung für mehr Struktur und Sicherheit

Es gibt nicht nur eine Lösung – auch die ethische Fallbesprechung ist kein Wundermittel, denn manchmal lassen sich Fragen auch hierdurch nicht hinreichend klären oder es kommt kein Kompromiss zustande. Die strukturierte Auseinandersetzung mit dem Thema unterstützt die einzelnen Teilnehmer jedoch in jedem Fall dabei, den eigenen Standpunkt zu überdenken. Ob Klinikum, Beratung, Tagespflege oder Altenheim: Vor allem kommt es den Bewohnern zugute, wenn alle Beteiligte an einem Strang ziehen und dabei Ethik und moralische Werte im Blick behalten.