Die 8 Spiralstufen der Krisenbewältigung nach Erika Schuchardt

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Inhaltsverzeichnis

Obwohl Lebenskrisen zum menschlichen Dasein gehören, empfinden viele sie dennoch als heftigen Schlag. Eine Krise trifft wie ein Schlag ins Gesicht und weckt Gefühle von Wut, Ohnmacht und Kontrollverlust. Betroffene durchleben häufig eine emotionale Achterbahn aus Angst, Trauer, Aggression, Resignation und Lähmung.

Trotz der Vielfalt an Krisen verlaufen die typischen Gefühlsphasen meist nach einer ähnlichen Struktur. Erika Schuchardt, Professorin für Bildungsforschung, hat diesen Prozess in einem Modell beschrieben, das wir Ihnen im Folgenden vorstellen. Um das Spiralmodell der Krisenbewältigung nach Schuchardt noch anschaulicher zu machen, ergänzen wir die theoretischen Ausführungen mit konkreten Praxisbeispielen.

Das Wichtigste in Kürze

    • Das Spiralmodell von Erika Schuchardt beschreibt Krisenbewältigung als achtstufigen Lernprozess – von Schock bis Neuorientierung.
    • Es verdeutlicht, dass Krisen einem nachvollziehbaren inneren Ablauf folgen und nicht chaotisch verlaufen.
    • Als etabliertes Krisenmodell bietet es Orientierung im Umgang mit existenziellen Belastungen.
    • Pflegekräfte erhalten damit ein Werkzeug, um emotionale Reaktionen besser einzuordnen und gezielt zu unterstützen.

    Das Modell von Erika Schuchardt

    Ihr Spiralmodell der Trauer- und Krisenbewältigung fußt auf Untersuchungen von hunderten von Krisenbiografien, die sie für ihre Arbeit gesammelt und analysiert hat. Es handelt sich um eines der in den letzten Jahren bedeutendsten Phasenmodelle zum Themenbereich der Krisen- und Trauerverarbeitung 

    Hier hat sie diese Stufen herausgearbeitet und analysiert:

    Übersicht: Die 8 Spiralstufen der Krisenbewältigung und die Aufgaben des Begleiter

    Wie Sie sicherlich aus Ihrer täglichen Arbeit wissen, verarbeiten Ihre Pflegekunden Krisen individuell – und dennoch gibt es bestimmte Ähnlichkeiten. Diesen Verlauf zu kennen ist hilfreich, damit Sie abschätzen können, wo sich Ihr zu Pflegender in seiner Krise befindet und wie Sie ihn hierbei unterstützen können. Sehen Sie hier in der Übersicht, welchen Aufgaben sich der Betroffene in einer Krise ausgesetzt sieht und wie Sie ihm helfen können.

    1. Ungewissheit: Der erste Schock

    In der ersten Phase, der Ungewissheit, trifft die schlechte Nachricht den Betroffenen völlig unvorbereitet. Um sich selbst zu schützen, versucht er zunächst, die Realität zu verdrängen.

    Diese erste Spiralphase lässt sich als Erkennungs- oder Eingangsstadium genauer beschreiben. Sie gliedert sich in drei typische Zwischenphasen, die sich abwechseln, gleichzeitig bestehen oder ineinander übergehen können.

    • In der Zwischenphase 1.1, der Unwissenheit, fragt sich der Betroffene: „Was soll das schon bedeuten?“
    • In der Zwischenphase 1.2, der Unsicherheit, stellt er sich die Frage: „Hat das doch etwas zu bedeuten?“
    • In der Zwischenphase 1.3, der Unannehmbarkeit, wehrt er sich mit dem Gedanken: „Das muss doch ein Irrtum sein.“

    Aufgabe des Begleiters:

    Gerade in diesem Schockzustand ist es entscheidend, den Betroffenen nicht allein zu lassen, sondern ihm Sicherheit und Unterstützung zu geben. Eine einfühlsame Begleitung legt den Grundstein für einen stabilen Verarbeitungsprozess und hilft, einer sozialen Isolation vorzubeugen. Auf diese Weise entsteht ein Prozess des Lernens, der neue Perspektiven für ein gemeinsames Leben eröffnet

    2. Gewissheit: Zwischen Wissen und Verdrängung

    In der zweiten Stufe, der Gewissheit, erkennt der Betroffene auf rationaler Ebene, dass die belastende Nachricht ihn tatsächlich betrifft. Das Wissen ist im Kopf angekommen, doch auf emotionaler Ebene fehlt noch die Zustimmung. Es entsteht ein innerer Zwiespalt zwischen Verstand und Gefühl. Immer wieder tauchen Zweifel auf, die Hoffnung nähren, dass alles doch ein Irrtum sei. Gedanken wie „Das kann doch gar nicht sein“ verdeutlichen diese Unsicherheit.

    Aufgabe des Begleiters

    In dieser Phase braucht der Betroffene einen Gesprächspartner, der seine widersprüchlichen Reaktionen aushält, ohne sie zu bewerten. Einfühlsame Gespräche über das Geschehene helfen, eine Brücke zwischen dem verstandesmäßigen Erfassen und dem emotionalen Begreifen zu bauen. Diese Unterstützung trägt wesentlich dazu bei, dass der Betroffene langsam Zugang zu seinen Gefühlen findet und die Realität schrittweise annehmen kann

    3. Aggression: Die Emotionen brechen durch

    In der dritten Phase der Krisenverarbeitung kommen die Emotionen mit voller Wucht zum Vorschein. Nachdem die Nachricht nun auch emotional verarbeitet wurde, reagiert der Betroffene mit heftigen Gefühlen wie Wut, Frustration oder tiefer Hilflosigkeit. Er stellt sich Fragen wie: „Warum trifft das ausgerechnet mich?“ Die aufbrechenden Emotionen überfordern ihn häufig so sehr, dass sie sich unkontrolliert entladen.

    Die innere Anspannung sucht sich oft ein Ventil, da der eigentliche Auslöser der Krise nicht greifbar ist. Die Folge: Die Aggression richtet sich gegen zufällige Personen oder Situationen im Umfeld. Alles, was sich in den Weg stellt, kann zur Zielscheibe werden. So beginnt nicht selten ein belastender Kreislauf aus Missverständnissen, Konflikten und Rückzug.

    Aufgabe des Begleiters

    Gerade in dieser Phase ist es wichtig, dem Betroffenen einen sicheren Raum zu geben, in dem er seine Gefühle frei äußern darf. Der Begleiter sollte die emotionalen Reaktionen annehmen, ohne sie zu bewerten oder zu beschwichtigen. Nur so kann der Betroffene lernen, mit der Intensität seiner Gefühle umzugehen und die Krise weiterzuverarbeiten.

    4. Verhandlung: Der Versuch, das Schicksal zu wenden

    In der Phase der Verhandlung beginnt der Betroffene, aktiv nach Wegen zu suchen, um der Situation doch noch etwas entgegenzusetzen. Mit allen ihm bekannten Strategien versucht er, die Kontrolle zurückzugewinnen und das Geschehen in eine günstigere Richtung zu lenken. Dabei kann es zu impulsiven oder auch verzweifelten Handlungen kommen – zum Beispiel zu plötzlichen Lebensstiländerungen nach einer schweren Diagnose. Die Hoffnung, das Unvermeidliche abwenden zu können, treibt ihn dabei an.

    Aufgabe des Begleiters:

    Menschen, die sich in dieser Lage allein gelassen fühlen, laufen Gefahr, sich in sinnlosen oder sogar selbstschädigenden Maßnahmen zu verlieren – emotional wie auch materiell. Auch wenn die Handlungen irrational oder unrealistisch erscheinen, dürfen sie nicht abgewertet werden. Entscheidend ist, dass der Betroffene sich verstanden fühlt. Die Begleitung besteht darin, Halt zu geben, ohne zu korrigieren oder zu urteilen, um dem Betroffenen in dieser sensiblen Phase Orientierung zu ermöglichen.

    5. Depression: Das Gefühl der Ausweglosigkeit

    In der Phase der Depression wird dem Betroffenen mit voller Wucht bewusst, dass sich an der Situation nichts mehr ändern lässt. Die Hoffnung auf eine Wendung oder ein Wunder ist verflogen. Stattdessen überwiegen Gefühle von Erschöpfung, Mutlosigkeit und tiefer Traurigkeit. Viele Betroffene ziehen sich zurück, fühlen sich leer oder innerlich gelähmt. Typische Gedanken in dieser Phase sind: „Ich sehe keinen Ausweg mehr“ oder „Ich habe zu nichts mehr Kraft.“

    Diese Reaktion ist eine natürliche Antwort auf den endgültigen Verlust von Kontrolle. Ob es sich um eine unheilbare Erkrankung handelt, die Erkenntnis, dass ein geliebter Mensch dauerhaft pflegebedürftig bleibt, oder das Verarbeiten eines schweren Schicksalsschlags wie einer Amputation – die Realität lässt sich nun nicht mehr ausblenden.

    Aufgabe des Begleiters:

    In dieser Phase braucht der Betroffene jemanden, der einfach da ist. Der Begleiter sollte nicht versuchen, die Gefühle wegzureden oder schnell auf Lösungen hinzuweisen. Viel wichtiger ist es, dem Betroffenen in seinem Schmerz beizustehen und ihm durch verlässliche Zuwendung zu signalisieren: Du bist mit diesem Leid nicht allein.

    6. Annahme: Die innere Zustimmung

    In dieser Phase gelingt es dem Betroffenen, die Realität so anzunehmen wie sie ist, auch wenn sie schwerfällt. Er erkennt, dass sich die Situation nicht ändern lässt, aber dass er lernen kann, damit zu leben. Die Verzweiflung weicht nach und nach einer ruhigen Klarheit. Aus dem Gefühl, es nicht zu schaffen, entwickelt sich die Bereitschaft, einen eigenen Weg zu finden. Viele gewinnen in dieser Phase ein neues Bewusstsein dafür, was ihnen im Leben wirklich wichtig ist.

    Der Blick richtet sich wieder nach vorne. So entscheidet sich zum Beispiel ein Krebspatient, die verbleibende Zeit bewusst und intensiv zu nutzen. Eine alleinerziehende Mutter mit einem behinderten Kind schöpft neue Kraft, um den Alltag mit Zuversicht zu bewältigen. Der Schmerz bleibt zwar bestehen, doch er tritt nicht mehr in den Vordergrund.

    Aufgabe des Begleiters:

    Der Begleiter sollte dem Betroffenen jetzt zuhören und ihm Raum geben, seine neuen Einsichten zu teilen. Ein wertschätzender und offener Austausch unterstützt dabei, den Mut zu stärken und Schritt für Schritt mit der veränderten Situation zu leben.

    7. Aktivität: Neue Kraft für neues Handeln

    In dieser Phase richtet der Betroffene seine Energie darauf, die veränderte Lebenssituation aktiv zu gestalten. Er sucht das Gespräch mit vertrauten Menschen, trifft sich wieder mit Freunden, verbringt Zeit mit seinen Kindern und nimmt alte Hobbys auf. Der Entschluss, mit der eigenen Besonderheit zu leben, setzt Kräfte frei, die vorher im Widerstand gebunden waren. Dieses neu gewonnene Potenzial treibt ihn zum Handeln an. Die Betroffenen erkennen, dass es nicht darauf ankommt, was man hat, sondern was man daraus macht. Dabei verändert sich vor allem die eigene Haltung, was langfristig auch Veränderungen im Umfeld bewirken kann.

    Aufgabe des Begleiters:

     Der Begleiter sollte den Betroffenen in seinem neu gefundenen Tatendrang aktiv unterstützen. Es ist wichtig, seine Eigeninitiative wertzuschätzen und zu fördern, damit er motiviert bleibt, die eigene Situation selbstbestimmt zu gestalten. Durch ermutigende Worte und offene Unterstützung hilft der Begleiter, die Energie des Betroffenen nicht zu bremsen, sondern sie gezielt für positive Veränderungen zu nutzen.

    8. Solidarität: Aus der Krise wächst Gemeinschaft

    Die achte Stufe nennt sich Solidarität. In dieser Phase blickt der Betroffene über sich hinaus und sucht den Austausch mit anderen, die ähnliche Erfahrungen machen – zum Beispiel in Selbsthilfegruppen. Diese Verbindung mit Gleichgesinnten kann als sinnvoll und bereichernd erlebt werden. Das aktive Mitgestalten im gemeinsamen Leben ermöglicht Selbstverwirklichung, auch wenn man anders ist als die üblichen gesellschaftlichen Leistungsmaßstäbe es verlangen. So zeigt sich die Krise als eine Chance für persönliches Wachstum und Gemeinschaft.

    Aufgabe des Begleiters:

    Er unterstützt den Betroffenen dabei, passende Gruppen oder Kontakte zu finden. Zudem ermutigt er ihn, seine Erlebnisse zu teilen und andere Menschen in ähnlicher Lage zu unterstützen. So fördert der Begleiter den Aufbau von Gemeinschaft und gegenseitiger Hilfe.

    Tipp

    Übertragen Sie das Modell auf Ihre eigenen Krisen. Schauen Sie doch einmal zusammen mit Ihrem Team, welche Krisen Ihnen in letzter Zeit widerfahren sind. Überlegen Sie, wie Sie versucht haben, diese zu bewältigen, und ob die hier aufgeführten Spiralstufen der Krisenverarbeitung sich in Ihren Erfahrungen ebenfalls wiederfinden.

    Damit das Spiralmodell der Krisenbewältigung nach Schuchardt nicht nur theoretisch bleibt, untermauern wir es mit einem anschaulichen Beispiel aus dem echten Leben.

    Praxisbeispiel: Herr K., 68 Jahre, nach Schlaganfall pflegebedürftig

    Herr K. lebte mit seiner Frau in einem ruhigen Vorort. Bis zu seinem 68. Lebensjahr führte er ein selbstständiges Leben. Dann erlitt er unerwartet einen schweren Schlaganfall. Als er im Krankenhaus aufwachte, konnte er seine rechte Körperhälfte nicht mehr bewegen.

    1. Phase der Ungewissheit

    Die ersten Tage nach dem Ereignis waren geprägt von Verdrängung. Herr K. wirkte gefasst, sagte mehrfach, dass sich alles bald normalisieren werde. Auch seine Kinder, die ihn im Krankenhaus besuchten, versuchten Zuversicht auszustrahlen. Die Situation erschien allen unwirklich.

    2. Phase der Gewissheit

    Ein Gespräch mit den Ärzten brachte Klarheit. Sie erklärten, dass Lähmungen und Sprachstörungen zurückbleiben würden und Herr K. künftig auf Pflege angewiesen sei. Die Informationen kamen an, aber innerlich hielt er an der Hoffnung fest, dass sich die Diagnose doch noch als falsch erweisen könnte.

    3. Phase der Aggression

    Wenige Tage später reagierte Herr K. zunehmend gereizt. Als ihn eine Pflegekraft waschen wollte, stieß er ihre Hand weg. Auch seiner Frau gegenüber äußerte er Vorwürfe. Er schrie, dass er kein Pflegefall sei. Die Kinder standen hilflos daneben. Die Wut richtete sich gegen die eigene Ohnmacht und das Gefühl, nicht mehr der starke Vater und Ehemann zu sein.

    4. Phase der Verhandlung

    Nach der Entlassung in die Reha zeigte Herr K. viel Ehrgeiz. Er trainierte unermüdlich, kaufte Rehahilfen und ließ sich spezielle Geräte von seinen Kindern mitbringen. Er sprach kaum über seine Ängste. Stattdessen kämpfte er, um wenigstens etwas Kontrolle zurückzugewinnen.

    5. Phase der Depression

    Als die Fortschritte ausblieben, zog sich Herr K. zurück. Er sprach kaum noch mit seiner Frau oder den Kindern, verweigerte Therapien und ließ sich nur noch widerwillig versorgen. Auch das Pflegepersonal erreichte ihn kaum noch.

    6. Phase der Annahme

    Eine Pflegefachkraft, die ihn seit Wochen betreute, zeigte sich geduldig. Sie zwang ihn zu nichts, blieb jedoch im Kontakt, hörte zu und nahm seine Frustration ernst. Nach und nach sprach Herr K. über seine Sorgen – insbesondere darüber, dass er sich als Belastung für seine Familie empfand. Die Einsicht wuchs, dass sich sein Leben dauerhaft verändert hatte.

    7.Phase der Aktivität

    Gemeinsam mit der Fachkraft entdeckte Herr K. neue Möglichkeiten. Er begann mit der linken Hand zu malen und freute sich, als seine Enkel ihm bunte Bilder für sein Zimmer schenkten. Kleine Erfolge stärkten sein Selbstwertgefühl. Auch die Beziehung zu seinen Kindern normalisierte sich wieder, weil sie ihn nun in seiner neuen Rolle akzeptieren konnten.

    8. Phase der Solidarität

    Heute engagiert sich Herr K. in einer Selbsthilfegruppe für Schlaganfall-Betroffene. Er erzählt offen von seiner Krise und macht anderen Mut – auch jenen, die wie er Vater oder Mutter sind und plötzlich in die Rolle des Pflegebedürftigen geraten. Die Pflegefachkraft unterstützt ihn weiterhin im Hintergrund und begleitet ihn auf Wunsch.